Bra Tami

Bra Tami

ist als Dorfälteste ihrer Hadza-Gemeinschaft für weitaus mehr zuständig als das Betreuen des Nachwuchses.


Zufriedener könnte Bra Tami an diesem Mittag kaum sein. Die Sonne scheint, die Urenkel toben um ihre Hütte herum – und soeben gab es Pavian zum Essen. „Neben der Kudu-Antilope mein Lieblingsgericht“, erzählt sie. Die Männer aus ihrer Dorfgemeinschaft haben das Tier in den frühen Morgenstunden erlegt, und die erste Hälfte des Affen schmeckte bereits vorzüglich. Das restliche Fleisch trocknet fein filetiert in der sengenden Hitze vor sich hin und wartet aufs Abendessen. Der Schädel des Primaten hängt an einem übergroßen Affenbrotbaum; das Fell ist auf dem Boden ausgebreitet für die weitere Verarbeitung – etwa zu Kopfschmuck oder Schuhen.

25 Männer, Frauen und Kinder aus dem Volk der Hadza bilden dieses kleine Dorf, das keinen Namen besitzt – es wäre auch kaum zielführend, leben sie doch nomadisch und ziehen alle drei bis vier Monate weiter. Immer den Tieren hinterher. Denn die Hadza sind die letzten verbliebenen Jäger Tansanias. Noch schätzungsweise 700 von ihnen leben in zahlreichen kleinen Gemeinschaften in der kargen und touristenfreien Region rund um den Eyasi-See.

Bra sitzt vor ihrer luftigen Hütte und arbeitet an einer Armkette. Um diese Zeit des Tages lässt die Sonne keine anstrengenden Tätigkeiten zu. „Ich kann aufgrund meines Alters nicht mehr so viele Aufgaben übernehmen. Tagsüber kümmere ich mich um die Kinder und nachts achte ich darauf, dass das Feuer nicht ausgeht. So halten wir die Tiere fern und in den kühleren Monaten gibt uns das Feuer die nötige Wärme“, fasst sie schüchtern zusammen. Offensichtlich skeptisch, weil sie nicht versteht, was diese Fragen stellenden Menschen aus der Fremde mit den bunten Klamotten, dem Schreibblock und der Kamera eigentlich von ihr wollen.

Die Frauen aus der jüngeren Generation übernehmen kurz das Wort: Keineswegs sei Bras Arbeit auf den Nachwuchs und das Feuer zu reduzieren. „Sie ist als Dorfälteste hoch respektiert“, sagt eine Nachbarin, „immerhin ist sie unsere Streitschlichterin. Und vor allem bei Geburten wird ihr eine entscheidende Aufgabe zuteil. Als Erfahrenste von uns fungiert sie dann als Hebamme. Wir alle profitieren von ihrer jahrelangen Erfahrung.“ Um wie viele Jahre es sich bei Bras Alter genau handelt, das kann keine von ihnen konkretisieren. Bei den Hadza gibt es keine Wochentage, Monate oder Jahre. Es gibt nur Regen- und Trockenzeit. Keine hier kennt ihr Alter, bei Bra schätzen es die Frauen nach längerer Diskussion auf „wahrscheinlich über 80 Jahre“.

Ungewohnte Klänge hallen auf einmal durch den Busch. Nur einen Steinwurf entfernt lehnt ein junger Krieger an einem Schatten spendenden Affenbrot-Baum und spielt eine einfache Melodie auf der Sese, einem einsaitigen Streichinstrument. Es herrscht eine Stimmung, die in von Hektik regierten Industrienationen wahrscheinlich als „melancholisch“ oder „nachdenklich“ bezeichnet werden würde. Hier gehören Ruhe und mittägliche Untätigkeit hingegen zum Alltag.

Es ist bei uns Tradition, unsere Verstorbenen von Hyänen fressen zu lassen.

Nur morgens und abends gehen die Männer geschlossen auf die Jagd. Mit Pfeil und Bogen, die Spitze der Pfeile eingetaucht in den Saft giftiger Pflanzen. Auf diese Weise wurde es praktiziert, als die Hadza vor mehreren tausend Jahren aus dem Süden Afrikas nach Tansania kamen – und dieses Vorgehen stellt noch heute den einzigen Jagdstil des etwa 10.000 Jahre alten Volks dar. Die Männer jagen Antilopen und Büffel, Zebras und Primaten, Vögel und Warzenschweine. Eigentlich alles, was sich bewegt. Lediglich Hyänen sind tabu: „Es ist bei uns Tradition, unsere Verstorbenen von Hyänen fressen zu lassen“, erklärt Bra. „Daher können wir diese Tiere – wir nennen sie ‚Aufräumer‘ – auf keinen Fall essen.“

Das einfache Leben der Hadza wirkt fremd und unwirklich, wo keine zehn Kilometer entfernt Motorräder, Busse und LKWs durch die wichtigste Zwiebelanbauregion Ostafrikas knattern. Im Busch hingegen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Wasser erhalten die Hadza aus natürlichen Einkerbungen in den Baobabs, als Kelle dienen die Hülsen von deren Früchten. Honig sammeln die Jungen aus den Bienenwaben hoch oben in den Wipfeln. Gegen die Raubtiere der Region – noch immer treffen sie gelegentlich auf Leoparden und Löwen – legen sie eine streng geheime „heilige Pflanze“ auf die Dächer ihrer Hütten, darunter dienen Antilopen-Felle als Matratzen und Bettdecken. Wenn es, wie in diesen Tagen, bei der Jagd nicht so gut klappen will, sind die Frauen gefragt: Dann suchen sie Beeren und Früchte zum Essen, dazu Maniok und wilde Kartoffeln.

Bras Volk profitiert gleich in mehreren Bereichen von einer Sonderstellung: Die Buschmänner und -frauen, deren isolierte Sprache mit den auffälligen Klicklauten ein wenig klingt wie die der Xhosa oder der San, sind die einzigen Menschen im Land, die keine Steuern zahlen müssen. Ebenso sind sie die einzigen, denen das Jagen in offenen Gebieten gestattet ist. Diese Regelung entstand ursprünglich in den 1970ern, während der Zeit der Ujamaa, des „Afrikanischen Sozialismus“ unter Tansanias erstem Präsidenten Julius Nyerere. Das Programm, welches das Leben im ostafrikanischen Staat zwischen 1967 und 1985 bestimmte und es letztlich in die Staatspleite führte, verfolgte das Ziel, jegliche Klassenunterschiede zu beseitigen. Hierfür wurden im ganzen Land künstliche Dorfgemeinschaften angelegt, alle mit demselben Standard, jedes mit einer landwirtschaftlichen Grundausrichtung.

Wir haben es nur sehr kurz ausgehalten. Der Regen auf den Dächern war sehr laut, sodass wir nachts nicht schlafen konnten.

Auch die Hadza wurden dazu verdonnert, ihr traditionelles Leben aufzugeben und in einfachen Häusern mit Wellblechdach zu leben. „Wir haben es nur sehr kurz ausgehalten“, erinnert sich Bra. „Der Regen auf den Dächern war sehr laut, sodass wir nachts nicht schlafen konnten. Viele Kinder starben, weil es in den Häusern zu kühl war und sie sich erkälteten.“ Nach wenigen Wochen verschwanden die Hadza wieder Richtung Busch und lebten ihr ursprüngliches Leben. Die Regierung ließ sie gewähren.

Anders verhält es sich heute, etwa 40 Jahre später, beim Thema Schulpflicht. Keiner im Dorf kann lesen und schreiben – die Hadza sehen hierfür schlichtweg keine Notwendigkeit. Aus diesem Grund verstecken sich die schulpflichtigen Kinder sofort im Busch, wenn sich Touristen, Ethnologen oder Journalisten nähern. Es könnte ja jemand von der Schulaufsicht unter den Besuchern sein. Doch viele kommen ohnehin nicht vorbei – nur ein Tourist verirrt sich durchschnittlich pro Monat in diese Gegend. Von den mehr als 130 Ethnien Tansanias sind die Hadza eine der am wenigsten beachteten – gesellschaftlich und medial bekannter sind allen voran die Maasai.

Die Hitze lässt ein wenig nach, bald steht die zweite Jagd des Tages an. Noch ruhen die Männer im Schatten eines Baobabs, lauschen der Sese und reparieren ihre Waffen. Später wollen sie endlich mal wieder ein großes Tier aufspüren und erlegen. Es wäre das erste seit vielen Tagen. Jetzt, kurz vor der Regenzeit, sind die meisten Tiere gen Norden, hauptsächlich in die Serengeti migriert – Büffel, Eland-Antilopen und Zebras sind entsprechend selten am Eyasi-See. Doch sollte den Jägern an diesem Abend ein Coup gelingen, werden unverzüglich die umliegenden Hadza-Dörfer kontaktiert und eingeladen. „Bei einem Zebra kommen sie alle“, sagt Bra. Überhaupt sind jene Tage die wichtigsten im Leben der Hadza – wenn ein großes Tier gefangen wird, wird ein mindestens genauso großes Fest veranstaltet mit Barbecue, Trockenfleisch, Gulasch, Jagdwettbewerben und Modeschauen. Ähnlich große Feste veranstaltet das Volk nur in Vollmondnächten. Denn die Hadza glauben nicht an einen Gott, sondern an den Mond.

Statistiken haben gezeigt, dass Bra, ihre Tochter, ihre vier Enkel, ihre Urenkel und Nachbarn ein deutlich gesünderes Leben führen als die meisten anderen Tansanier. Ihre Ernährung ist ausgewogen, durch das nomadische Leben sind sie immer in Bewegung. In wenigen Wochen wird die kurze Regenzeit beginnen, die Hadza ziehen dann in die Bergregion um, wo Höhlen und Felsen sie vor Wind und Wetter schützen. So taten sie es schon vor 7000 Jahren: Die Felsmalereien von Kolo legen davon auf beeindruckende Weise Zeugnis ab.

Mit ihren mehr als 80 Jahren fühlt sich Bra Tami keineswegs zu alt für eine erneute Reise in die Berge: „Ich mag es sogar sehr, umzuziehen. Nur auf diese Weise können wir überleben“, sagt sie pragmatisch. „Und solange ich nahe bei meiner Familie bin – und solange ich lebe, bin ich glücklich.“


21. Februar 2016

 


Das könnte Sie auch interessieren…

Eschete Gebre Medhin, Priester aus ÄthiopienÄhnlich außergewöhnlich ist das spannende Leben von Priester Eschete Gebre Medhin, der seine Insel im äthiopischen Tana-See seit mehr als 80 Jahren nicht verlassen hat.