… gewann mit nur 22 Jahren das wichtigste Radrennen Ostafrikas und strebt nun nach Größerem.
Die lauten „Bosco! Bosco!“-Rufe machen den monsunartigen Platzregen für einen Moment vergessen. Alles ist durchnässt, die Kamerateams und Fotografen kämpfen um das beste Bild, das spannendste Interview – und mit den wenigen vorhandenen Schirmen ums Überleben ihrer Technik. Die meisten Fans sind unter Vordächer, in Zelte und Bars geflüchtet. In einer Apotheke stehen sie dicht gedrängt und bestaunen im TV jenes Ereignis, welches nur wenige Meter von ihnen entfernt stattfindet. Aus dem alten Röhrenfernseher dringt der scheinbar unaufhörliche „Bosco!“-Schrei des Live-Moderators. Die hartgesottenen Fans tun es ihm gleich, jubeln, singen, trotzen dem Regen. Sie stehen ganz nah bei ihrem Idol und recken selbstgemalte Schilder und ruandische Nationalflaggen in die Höhe. „God help Team Rwanda“, steht auf einem Plakat, doch der Regen von Kigali hat ihm schon schwer zugesetzt.
Den Regen habe ich in dem Moment überhaupt nicht mitbekommen. Ich hatte das Gefühl, als scheine die Sonne.
Vor den begeisterten Fans steht Jean Bosco Nsengimana in seinem gelben, durchnässten Radtrikot auf dem Podium und strahlt. „Den Regen habe ich in dem Moment überhaupt nicht mitbekommen“, sagt er wenige Tage später, „ich hatte das Gefühl, als scheine die Sonne.“ Nun sitzt Jean Bosco erholt und selig im Team Africa Rising Cycling Center im Norden Ruandas. Trocken, ausgeruht und hungrig auf mehr. Der 22-jährige Rennradfahrer ist frischgebackener Gewinner der Tour of Rwanda, dem bedeutsamsten Mehrtages-Straßenrennen Ostafrikas, einem der wichtigsten des gesamten Kontinents.
Die Geschichte des schlaksigen, hochgewachsenen Jean Bosco Nsengimana, der nun eine Bekanntheit in seiner Heimat ist und überall nur noch „Bosco“ heißt, steht stellvertretend für die steile Entwicklung des professionellen Radsports in Ruanda. Dieser könnte dem kleinen Staat bald die sportliche Aufmerksamkeit bescheren, die das Land bislang gänzlich vermissen lässt.
Fahrräder sind allgegenwärtig im kleinen ostafrikanischen Binnenstaat, etwa als Transport- und Fortbewegungsmittel. In ländlichen Regionen und Kleinstädten dient das sogenannte Boda-Boda als gängigstes Passagiertransportmittel – ein Fahrrad mit gepolstertem Gepäckträger ist hier das perfekte Ein-Mann-Taxi. Das „Land der tausend Hügel“, wie Ruanda genannt wird, mit seinen knackigen Anstiegen und dem anspruchsvollen Gelände auf zahlreichen Hochplateaus bildet eine tägliche Herausforderung für Fahrrad-Taxi-Fahrer und Radsportler gleichermaßen. Diese vielversprechenden Bedingungen erkannte auch Jonathan „Jock“ Boyer bei seinem Besuch im Jahr 2006. Der erste US-amerikanische Tour de France-Teilnehmer aller Zeiten ist seither Headcoach des Team Africa Rising, einem Zusammenschluss aus ruandischen, äthiopischen und eritreischen Talenten.
Boyer und sein Team entwickeln seither eine Infrastruktur für Rennradsportler, die in Ostafrika ihres Gleichen sucht. Mit bemerkenswertem Erfolg: 2012 startet ihr Schützling Adrien Niyonshuti als erster ruandischer Radfahrer bei den Olympischen Spielen in London. Damals besteht das ruandische Nationalteam aus zwölf Athleten, heute sind es 30. Damals wohnen Sportler und Trainerteam eingeengt in zwei Häusern, heute ist das 2014 eröffnete Team Africa Rising Cycling Center nahe der Kleinstadt Musanze ihre Heimat. 16 Gebäude, 18 nagelneue Rennräder, acht Zeitfahr-Maschinen sowie Schuhe, Helme, Brillen und Trikots für alle Sportler des Teams nennen sie seither ihr Eigen.
Im Sommer 2014 bezieht die Mannschaft hier Quartier. Nur ein halbes Jahr später ernten sie die Früchte der langjährigen Arbeit und der modernen Trainingsbedingungen: Valens Ndayisenga gewinnt als erster Ruander überhaupt die Schleife durchs eigene Land. Im Jahr darauf ist es nun also Bosco, der dem Team Ruanda zu Ruhm verhilft. Bei der wohl regenreichsten Ausgabe des Rennens erzielt er einen Start-Ziel-Sieg, gewinnt den Prolog zum Auftakt und gibt das gelbe Leibchen des Gesamtführenden nicht mehr ab, bis er nach sieben Tagen und 928 Kilometern im Regen von Kigali die Ziellinie überquert. Insgesamt drei Etappensiege fügt er während des Rennens seinem Palmarès hinzu.
2015 war überhaupt ein gutes Jahr für ihn: Er nahm an der U-23-WM in den USA teil, bestritt die Tour do Rio, gewann den Rwanda Cycling Cup und wurde Zweiter bei den nationalen Zeitfahr-Meisterschaften. Die lokale Presse ist sich spätestens seit seinem Coup bei der Tour of Rwanda einig: Bosco ist einer für Europa, vielleicht sogar ein zweiter Daniel Teklehaimanot. Der Eritreer erkletterte sich im Sommer 2015 zuerst das Bergtrikot bei der Dauphiné Libéré und selbiges anschließend zeitweise bei der Tour de France – als erster Afrikaner der Radsportgeschichte. Die Parallelen zwischen Teklehaimanot und Bosco sind nicht von der Hand zu weisen. Beide sind hochtalentierte Kletterer, Teklehaimanot gewann 2010 ebenfalls die Tour of Rwanda.
Das Allergrößte war die erste Fahrt auf einem Rennrad. Dieses Gefühl kannst du keinem beschreiben.
Wenn der junge Sportler beginnt, davon zu erzählen, wo er später einmal hin möchte, blicken seine schwarzen Augen meist schüchtern gen Boden. Er spricht leise und bedacht – wie einer, der nicht so schnell vergessen wird, wo er herkommt. Aus einfachen Verhältnissen, in denen das Fahrrad ausschließlich dem Transport diente. Dem Pragmatismus und der Existenz und nicht irgendwelchen Träumen von L’Alpe d’Huez oder Mont Ventoux. Das Jahr 2012, sagt er, habe sein Leben plötzlich verändert: „Da wurde ich vom Team Ruanda entdeckt. Ich hatte zuvor gar nichts, keinen Besitz, keine Perspektive. Jetzt erhalte ich ein monatliches Gehalt und habe mein eigenes Haus. Aber das Allergrößte“, sagt er, „war die erste Fahrt auf einem Rennrad. Dieses Gefühl kannst du keinem beschreiben.“ Da ist es wieder, das breite Grinsen vom Siegerpodest. Das Grinsen eines Stars? „Naja, meine Familie und Freunde denken das zumindest“, sagt er: „Das macht mich natürlich glücklich. Der Sieg bei der Tour war großartig für mich, für das Team und für das Land.“ Doch Bosco ist jung, genau wie der Radsport in seiner Heimat. Da bleibt noch Luft nach oben und das weiß er: „Ich muss mich stetig weiterentwickeln, um so schnell wie möglich für ein Team aus Europa starten zu dürfen und dort Rennerfahrung zu sammeln.“ Täglich trainiert er bis zu sieben Stunden für dieses Ziel, nimmt Englisch-Unterricht und achtet penibel auf seine Ernährung.
Der Radsport in seinem Land hat Rückenwind: Das Land, in dem es bis vor acht Jahren keinen einzigen Berufsradsportler gab, liegt mittlerweile auf Rang fünf der UCI Africa Tour hinter Nationen mit deutlich höheren Budgets. Team Ruanda muss jährlich mit kaum mehr als einer halben Million Euro über die Runden kommen. Doch dafür schlagen sie sich gut: Der Ruander Janvier Hadi wurde 2015 Afrikameister auf den Straßen von Brazzaville, Teamkollegin Jeanne D’Arc Girubuntu wurde Vierte im Zeitfahren der Frauen.
Bosco erreichte dort Bronze im Teamzeitfahren und liegt in der afrikanischen Fahrerwertung gegenwärtig auf Rang 13, als drittbester U-23-Fahrer auf dem gesamten Kontinent. Da kann man durchaus mal ein wenig träumen – zum Beispiel von einem Duell mit seinem Idol Chris Froome. Am besten bei der Tour de France, dem Fernziel des Team Africa Rising. „Wir wollen ein komplett schwarzafrikanisches Team nach Frankreich schicken“, erneuert Teamchef Boyer sein bereits vor Jahren formuliertes Ziel. „Mit Fahrern wie Bosco kann das klappen. Gebt ihm noch ein, zwei Jahre Rennerfahrung in Europa, dann kann er die Tour bestreiten.“
Doch Träume sind auch da, um hinterfragt zu werden. So steht das Team vor großen Herausforderungen: Talente aus Kenia und Uganda, mit denen die Mannschaft aus Ruanda gerne kooperieren würde, leiden seit Jahren unter dem Diktat höchst korrupter nationaler Radsport-Verbände. Auch Visa sind ein Problem: Insbesondere die Fahrer aus Äthiopien und Eritrea werden häufig abgelehnt und können folglich nicht bei internationalen Rennen an den Start gehen. Bei der WM in den USA im September, zu der das Team Africa Rising zahlreiche ruandische, äthiopische und eritreische Fahrer entsandte, bestätigte sich die behördliche Skepsis: Ein Starter aus Eritrea flog nach Richmond und ward nach seiner Ankunft nicht mehr gesehen. Auf das Rennen verzichtete er, das nagelneue Mountainbike aber nahm er mit. Im Vergleich dazu ist der Regen wohl noch eine der kleinsten Herausforderungen des ruandischen Radsports.
27. November 2015
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