Emmanuel Ndayisaba

Emmanuel

versuchte während des Genozids, seine Schulfreundin Alice Mukarurinda zu ermorden.


Bis zu 1 Million Tote in nur 100 Tagen. Das ist die grausame Bilanz des Völkermords von Ruanda, der sich zwischen April und Juni 1994 im kleinen ostafrikanischen Binnenstaat ereignete. Wer nach Ruanda reist, wer über das Land liest und sich mit seinen Menschen beschäftigt, kommt um das Thema nicht herum. „Never again“ steht auf den vielen Mahnmalen und Gedenktafeln, die im ganzen Land verteilt sind. Nur langsam tritt Ruanda aus dem Schatten seiner grausamen Historie. Zu heftig waren die Geschehnisse dieser Zeit, als dass man sie einfach vergessen könnte.

Schuld waren ursprünglich die Belgier. Die Herrscher der damaligen Kolonie Ruanda-Urundi teilten die Bevölkerung auf: in Tutsi und Hutu. Die Minderheit der Tutsi behandelten sie bevorzugt, betreuten sie mit Verwaltungsaufgaben – die Mehrheit der Hutu rächte sich dafür ihrerseits nach der Machtübernahme 1959. Sie töteten Zehntausende Tutsi und vertrieben eine noch größere Zahl aus Ruanda nach Burundi und andere Nachbarstaaten.

1990 fiel die Ruandische Patriotische Front (RPF), eine Tutsi-Miliz, schließlich von Uganda aus ins Land ein, um die Macht zurückzugewinnen. Ein blutiger Bürgerkrieg entbrannte, der 1994 im Genozid endete. Angetrieben von den Medien, der Politik und den Soldaten ermordete die Mehrheit der Hutu in diesem Frühsommer zwischen 75 und 90 Prozent aller im Land verbliebenen Tutsi. Die internationale Gesellschaft schaute weg, reagierte viel zu spät – und ließ so einen der größten Völkermorde der Weltgeschichte geschehen.

In Nyamata, eine halbe Autostunde südlich von Kigali gelegen, starben 1994 rund 45.000 Menschen. Alice Mukarurinda verlor damals ihre gesamte Familie. Und sie dachte, auch sie sei tot. Ihr Mörder: Emmanuel Ndayisaba.

Der 11. April 1994 verändert das Leben des damals 23-jährigen Emmanuel Ndayisaba. An diesem Tag wird er zum Mörder. Eine Armada ruandischer Soldaten fällt in seine Geburtsstadt Nyamata ein. Tutsi werden ermordet, Hutu eingezogen. Emmanuel und seine Freunde, allesamt Hutu, bekommen einen unmissverständlichen Auftrag: „Ihr werdet heute Menschen töten“, lautet der Befehl der Soldaten. „Sie haben uns Reichtum und Ruhm versprochen“, erinnert sich der heute 44-Jährige. Der großgewachsene Mann mit dem ernsten Blick ist hochkonzentriert, als er erzählt. „Aber wir haben uns geweigert“, fügt er hinzu. Sein Körper ist meist regungslos, er bewegt ihn kaum, während er die Gedanken Revue passieren lässt. Doch nun krempelt er den rechten Ärmel seines Hemds bis zum Ellenbogen nach oben. Zwei kreisrunde Narben kommen am Unterarm zum Vorschein. Glatter Durchschuss. Die Antwort der Soldaten auf Emmanuels Widerspruch. Der ist daraufhin gebrochen. Der junge Mann beginnt zu morden.

Der erste Mord war schrecklich. Doch danach verschwand die Angst komplett. Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht.

Rutaza. So heißt die erste Tutsi-Familie, die er und seine Freunde töten. Nur mit Hilfe von Macheten beenden sie das Leben von 14 Menschen. Wie es ist, einen Menschen zu töten? „Ich hatte große Angst“, erinnert er sich, „der erste Mord war schrecklich. Doch danach verschwand die Angst komplett. Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht.“ Wie geschätzt 175.000 bis 210.000 andere Hutu mordet sich Emmanuel Ndayisaba in einen Rausch und verwandelt Ruanda binnen kürzester Zeit in ein Schlachtfeld.

Am 29. April begegnet er seiner Grundschulfreundin Alice. „Mit einem Bus wurden wir von den Soldaten nach Ntarama gefahren“, sagt er und nickt in Richtung des wenige Kilometer entfernt gelegenen Ortes. „Die weitläufige Schilflandschaft dort war voller Menschen. Wir haben sie alle umgebracht.“ Er wird leise. Unter den Opfern sind Alice und ihre Tochter. Wer genau die Tochter ermordet hat, daran kann sich Emmanuel nicht erinnern. Vielleicht will er es auch einfach nicht verraten, vielleicht hat er es verdrängt. Bei Alice hingegen ist die Sache klar: „Ich habe sie umgebracht“, sagt er. Er fügt ihr die Verletzungen zu. Er hackt ihr die rechte Hand ab, ohne zu zögern. Im Wissen, wer sein Gegenüber ist. „Ich war mir sicher, dass sie tot ist. Danach bin nach Hause gegangen.“

Bis Emmanuel aufwacht, vergehen Jahre. „Erst nach dem Genozid habe ich begonnen, darüber nachzudenken, was passiert ist. Da hat es mich tief getroffen und beschämt.“ Im November 1996, mehr als zweieinhalb Jahre nach dem Ende des Mordens, kommt er zur Besinnung. Er sucht die Lokalverwaltung auf, um sich zu stellen. Doch Ruanda ist ein toter Staat mit überforderten Behörden. „Die Angestellten waren völlig verwirrt. Ich kam dort hin, um mich zu entschuldigen, um zu gestehen. Aber die haben mich für verrückt erklärt und wieder nach Hause geschickt“, sagt er. Erst ein Jahr später wird er verhaftet und muss ins Gefängnis.

Doch wie verfährt ein kollabierter Staat mit Hunderttausenden Mördern sowie Millionen von Unterstützern einer solchen Mord-Orgie? Was tun, wenn der Justizapparat vollständig zerstört ist? „Selbst wenn wir die beste Judikative der Welt gehabt hätten“, erklärte Präsident Kagame kürzlich im Magazin NewAfrican, „hätte es Tausende Jahre gedauert, diese Millionen Fälle zu verhandeln.“ 2002 entscheidet sich die Regierung für eine pragmatische, nichtsdestotrotz von vielen westlichen Staaten harsch kritisierte Vorgehensweise. Die Täter des Genozids werden in drei Kategorien eingeteilt. Die Angeklagten der Kategorie 1 – Organisatoren des Völkermords, Milizen-Führer, Vergewaltiger – kommen vor ordentliche Gerichte in Ruanda und im tansanischen Arusha. Angeklagte der Kategorie 2 – Mörder wie Emmanuel Ndayisaba – und der dritten Kategorie – etwa Plünderer und Schläger – kommen stattdessen vor sogenannte Gacaca-Gerichte.

Gacaca bezeichnet ein traditionelles ruandisches Rechtssystem, dessen Wurzeln ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Ziel der Gacacas war und ist es, weniger schwerwiegende Verbrechen auf gemeinschaftlicher Basis zu lösen, im Gespräch der nachbarschaftlichen Gemeinschaft zu Kompromissen zu gelangen. Verhandelt wird vor einem Gemeinschaftsmitglied ohne juristischen Hintergrund, welches durch den Staat berufen wird. Die Entscheidung, dieses System auf Täter des Genozids anzuwenden und es sogar auf Mörder auszuweiten, beschleunigte die Aufarbeitung des Genozids. 2012, also zehn Jahre nach Beginn der ersten Genozid-bezogenen Gacaca-Prozesse, konnten so mehr als 1,9 Millionen Prozesse abgeschlossen werden. Über 12.000 Gacaca-Gerichte beendeten ihre Arbeit. Was blieb waren fast zwei Millionen zügig gesetzte Haken hinter einer grausamen historischen Episode. Und eine Vielzahl freigelassener Häftlinge, die um Vergebung baten, dadurch ihr Strafmaß deutlich mindern und frühzeitig entlassen werden konnten.

Ich werde wohl mein Leben lang die vielen Leichen vor mir sehen.

Auch Emmanuel wird auf diese Weise der Prozess gemacht. 2003 wird er freigesprochen von der Richterin, die er glaubte, Jahre zuvor ermordet zu haben. Der Zufall will es so. Alice Mukarurinda agiert zu dieser Zeit als Gacaca-Richterin. Sie soll ihren eigenen Fall verhandeln. „Als ich sie dort zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich ein Loch graben und mich darin verkriechen“, sagt Emmanuel. Zuerst bleibt Alice hart, einige Zeit später nimmt sie seine Entschuldigung an. „Die Zeit zwischen meiner Entschuldigung und ihrem Signal, mir zu vergeben, war die schwierigste meines Lebens“, sagt er. Erst seit dem Moment, in dem ihm vergeben wurde, könne er wieder glücklich sein. Heute ist er verheiratet, hat drei Kinder, arbeitet als Bauer. „Mir geht es eigentlich ganz gut“, sagt er. Doch glücklich wirkt er nicht. „Ich werde wohl mein Leben lang die vielen Leichen vor mir sehen“, ergänzt er.

Die Hutu dürfen keine Gnade mit den Tutsi zeigen.“ Im Museum des Kigali Genocide Memorial, einer weiteren ergreifenden Mahnstätte am Rande der Hauptstadt, prangen diese Worte in riesigen Lettern an der Wand. Sie stammen aus den „Zehn Geboten der Hutu“, veröffentlicht in einer großen ruandischen Zeitung, im Jahr 1990. Im Garten des Memorials liegen heute – 25 Jahre später – 250.000 Opfer im größten Massengrab des Landes, weil die Menschen Gebote wie dieses blind befolgten. 40 Kilometer entfernt sitzen der Hutu Emmanuel Ndayisaba und die Tutsi Alice Mukarurinda beisammen.

Einmal in der Woche treffen sie sich hier. Zusammen mit 150 anderen verteilen sie Essen an Bedürftige und bauen Häuser für Hinterbliebene des Völkermordes. 16 wurden bereits bezogen, 47 weitere sollen in Nyamata und Umgebung folgen. Ukuri Kuganze nennt sich ihre Organisation, die übersetzt „Möge sich die Wahrheit durchsetzen“ bedeutet. Über 1000 Mitglieder hat sie in Ruanda, sie alle sind Täter und Opfer des Genozids. Gemeinsam versuchen sie ihre Vergangenheit zu bewältigen. Damit sich eines Tages alle ehemaligen Feinde in die Augen schauen können, wie es Alice und Emmanuel schon heute tun.


9. Dezember 2015

 


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