Mary Angienda

Mary Angienda

… wurde zu einer von Kisumus 70 „Supermums“ gekürt und das aus gleich mehreren Gründen.


Es gibt eine Gruppe von Menschen, deren Arbeit so selbstverständlich, so einfach, so alltäglich zu sein scheint, dass sie nur selten bemerkt, anerkannt oder gar gewürdigt wird. Jeder hat sie, doch nur wenige sind sich bewusst, was die meisten von ihnen eigentlich leisten. Viele Frauen auf der ganzen Welt geben jeden Tag ihr Bestes, um ein gutes Vorbild zu sein, ausreichend Essen für die Familie zu erarbeiten, ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen – auch, wenn die Lebensumstände alles andere als einfach sind. Ungefragt, unentlohnt, ungesehen. Und dennoch handeln sie aus vollster Überzeugung: unsere Mütter.

Ihre Stärke und Unerschütterlichkeit einmal ausdrücklich zu würdigen, war das Ziel von Orpt Africa, einer kenianischen Talentagentur, die im November 2015 die „Supermums von Kisumu“ suchte. Nach nur einem Monat hatten sie 70 von ihnen gefunden. Einen ganzen Abend widmeten sie den Powerfrauen, verwöhnten sie mit Essensbuffet, Geschenktüten und mit der Bekanntschaft anderer inspirierender Mütter aus der westkenianischen Stadt. Mit Sicherheit wäre die Geschichte jeder Einzelnen es wert, an dieser Stelle aufgeschrieben zu werden – doch die von Mary Angienda ist es definitiv.

Die frisch gekürte Supermum empfängt ihre Gäste auf dem Gelände ihrer NGO Fascobi (Family Support Community Based Initiatives) in einem Vorort von Kisumu mit einer breiten Umarmung. Von gleich drei Leuten sei ihnen Mary Angienda als Supermum vorgeschlagen worden, weil sie für so viele ein Vorbild sei, erzählen die Gründer von Orpt Africa, Ivy Bina und Dave Onyeka. Seit 2008 kümmern sich Mary und ihr Team um vernachlässigte Kinder aus der Umgebung. „Wir arbeiten hauptsächlich in den Communities rund um Kisumu, aber unser Büro hier ist eine Anlaufstelle für alle, die akut Hilfe benötigen“, erklärt die 60-jährige Kenianerin.

Die Problemstellung in den Vororten rund um Kisumu umschreibt Mary zunächst so: „Wenn man in den Schulen in die ersten Klassen schaut, sitzen dort genauso viele Jungen wie Mädchen. In der achten Klasse stellt man fest, dass nur noch ein Bruchteil der Mädchen da sind, denn die meisten von ihnen wurden aus der Schule genommen“, sagt sie. Mary, welche sehr leise spricht und beim Erzählen manchmal die Augen schließt, wird nun konkret: „Die meisten der Mädchen werden auf den Markt geschickt, um zu arbeiten; andere werden zur Heirat verkauft, um die Schulbildung der männlichen Familienmitglieder zu finanzieren. Welche psychischen Auswirkungen das für sie hat, darüber sind sich die Eltern nicht bewusst.“ Hinzu kommen einzelne Fälle von Vergewaltigung und Verwaisung, häusliche Gewalt und Misshandlungen. Kurzum: Für Mary und ihr Team gibt es Arbeit an jeder Ecke.

Wenn ein Kind in der Schule fehlt und der Lehrer uns Bescheid gibt, dann suchen wir nach dem Grund dafür. Ist es auf dem Markt, ist die Familie verantwortlich.

„Unser Hauptanliegen ist der Schutz der Kinder“, fährt Mary fort, „wir wollen dafür sorgen, dass sie ganz normal in die Schule gehen können.“ Der Kern ihrer Arbeit besteht im Grunde darin, alle Beteiligten zur Übernahme von Verantwortung zu zwingen: „Wenn ein Kind in der Schule fehlt und der Lehrer uns Bescheid gibt, dann suchen wir nach dem Grund dafür. Ist es auf dem Markt, ist die Familie verantwortlich. Ist es am Strand, ist der Strandaufseher verantwortlich.“ Gleiches gelte, wenn ein junges Mädchen schwanger wird: „Wenn sie jemand aus der Familie geschwängert hat, bringen wir ihn direkt vor Gericht. Ist es ein Außenstehender, verpflichten wir ihn, zu arbeiten, denn er ist von nun an für das Baby verantwortlich.“

Mindestens genauso wichtig sei die Arbeit mit den Eltern selbst: Viele von ihnen wüssten nicht, warum es wichtig ist, ihre Kinder zur Schule zu schicken. „Fachgerechte Erziehung“ nennt Mary dieses Ziels ihrer Tätigkeit. In den meisten Fällen zeigt sie den Eltern die Langzeitfolgen ihrer Erziehungsmethoden auf – und nutzt für eine größere Reichweite auch gerne mal die lokalen Radiostationen, die sie erst an diesem Morgen für ein Interview besuchte. „Ich erkläre den Eltern dann zum Beispiel: Wenn ihr eure Tochter für eine Heirat verkauft, könnt ihr das Schulgeld eures Sohnes für das erste Jahr bezahlen. Eine Schulausbildung dauert aber vier Jahre. Was macht ihr dann im zweiten und dritten Jahr? Außerdem wird das Mädchen nach zwei bis drei Jahren schwieriger Ehe und ersten eigenen Kindern feststellen, dass sie nicht glücklich ist – und zu euch zurückkehren. Dann habt ihr noch mehr Mäuler zu stopfen“, sagt Mary. Sie rate den Eltern stattdessen etwa Land zu vermieten, so könnten sogar beide Kinder zur Schule gehen.

Für ihre Arbeit, die manchmal sehr herausfordernd sei und Geduld erfordere, benötige sie vor allem Verhandlungsgeschick und die Fähigkeit, eine persönliche Beziehung aufzubauen – genau das mache Mary in besonderer Weise aus, werfen Ivy und Dave ein. Doch ihr berufliches Engagement ist nicht der einzige Grund, warum Mary die Ehrung als „Kisumus Supermum“ zuteil wurde: Ganz nebenbei hat die ehemalige Lehrerin auch eine eigene Familie – nicht weniger als zehn Kinder befinden sich derzeit unter ihrem Dach. „Drei sind meine eigenen, die sieben weiteren sind unter meiner Obhut“, sagt sie. Sie habe die Kinder bei ihrer Arbeit kennengelernt und zu sich genommen: „Zwei sind zum Beispiel die Kinder von mental zurückgebliebenen Müttern, die sich nicht um sie kümmern konnten, und einer ist Vollwaise.“

Ihnen gibt Mary das, was ihre eigenen Eltern ihnen nicht geben konnten: die Überzeugung, für sie verantwortlich zu sein. Verantwortung – das bedeute es vor allem für sie, eine Mutter zu sein. „Man darf seinen Kindern nicht nur Essen zur Verfügung stellen. Man muss sich selbst zur Verfügung stellen, sein Dasein und seine Aufmerksamkeit. Nur so kann man seinem Kind die nötigen Kompetenzen, die es zum Leben braucht, vermitteln“, sagt eine von Kisumus Supermums.

Die kleine energische Frau, die im Libanon, auf den Philippinen und in Indien studierte, wird nachdenklich, wenn sie über ihre bisherigen Erfolge berichten soll. Nach längerem Überlegen antwortet sie schließlich – so liebevoll und fest überzeugt, wie es nur eine wirkliche Supermum sein kann: „Wenn ich Familien zusammen an einen Tisch bringe und sie über Probleme reden können, zähle ich das als eine Errungenschaft. Wenn ein Täter festgenommen wird, zähle ich das als eine Errungenschaft. Wenn sich ein Kind mir gegenüber öffnet, das früher schwierig im Umgang war, zähle ich auch das als eine Errungenschaft. Insofern haben wir schon einiges erreicht – aber es liegt noch sehr viel Arbeit vor uns.“


15. Januar 2016

 


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