Eschete Gebre Medhin

Eschete Gebre Medhin … ist seit 50 Jahren Priester auf einer kleinen Insel des größten Binnensees Äthiopiens, dem Tana-See.


Fast könnte man ihn übersehen, so regungslos sitzt Eschete Gebre Medhin als scheinbar fester Teil der Landschaft im Schatten eines großen Baumes, der ihn vor der Mittagssonne schützt. Doch als sich die Touristengruppe nähert, steht der alte Mann auf. Er stützt sich auf seinen großen Holzstab und geht langsam in Richtung Kirche. Der Priester zieht seine Sandalen aus, stellt sie zur Seite, kniet sich auf den Boden und küsst die Schwelle zum Gotteshaus. Dann betritt er es und verschwindet im dunklen Innern.

Gebannt nähert sich langsam die Gruppe. Darf man dem Priester einfach so folgen? Müssen ebenfalls die Schuhe abgelegt und die Schwelle geküsst werden? Die Besucher schauen sich fragend an und um. Nichts ist zu hören an diesem grün bewachsenen Ort, auf einer der 37 Inseln des Tana-Sees im Nordwesten Äthiopiens – abgesehen vom Zwitschern der Vögel. Da niemand zu sehen ist, der von europäischer Unwissenheit gestört werden könnte, folgt man kurzerhand dem Beispiel des Priesters.

Im Innern sitzt der alte Mann ruhig auf einer Holzbank und deutet mit der Hand an, sich ebenfalls zu setzen. Debre Maryam, die Marienkirche, erklärt er auf amharisch, sei ein Ort mit einer langen Geschichte. Bis ins 12. Jahrhundert reiche sie zurück, denn zu dieser Zeit wurde die Kirche erbaut. Besonders wichtig waren die Kirchen und Klöster der Inseln des Tana-Sees im 16. Jahrhundert, als sie als sichere Rückzugsorte während der christlich-muslimischen Auseinandersetzungen dienten, erzählt der Priester weiter. Sogar die Bundeslade soll hier aus diesem Grund aufbewahrt worden sein. Gemäß äthiopischer Tradition ist Debre Maryam eine Rundkirche aus Holz und Lehm, die von außen einem traditionellen äthiopischen Wohnhaus, dem sogenannten Tukul, ähnlich sieht. Das Materialgemisch ist zwar beständig, aber eben nicht ewig während. Im Laufe der Zeit habe Debre Maryam deshalb mehrfach erneuert werden müssen, sagt der Priester, der heutige Korpus sei aus dem 19. Jahrhundert.

Er beendet seine Erläuterung und führt ins nebenan gelegene Museum, das einige alte Bücher und Kreuze beinhaltet, nimmt schweigend Platz und schaut in die Ferne. Zwei einheimische Gläubige küssen nach äthiopischer Tradition das Handkreuz, das der Priester trägt, vier Mal an den jeweiligen Enden – auch, wer einen Priester auf der Straße trifft, folgt in Äthiopien diesem Ritual. Eschete Gebre Medhin wiederholt leise mehrere Worte. Einige der vor Ehrfurcht still gewordenen Besucher beginnen, dem Geistlichen Fragen zu stellen. Über das Interesse sichtbar erfreut, beginnt der 82-Jährige zu erzählen.

Ich habe die Verantwortung für diese Kirche, für Gott und für die Heiligtümer. Deshalb kann ich nicht weg.

Seit 50 Jahren wache er über die Kirche und ihre alten Schriften. Und noch nie habe er die Insel verlassen. „Es ist meine Aufgabe, Gott zu lobpreisen“, erklärt er mit aller Selbstverständlichkeit und fügt hinzu: „Ich habe die Verantwortung für diese Kirche, für Gott und für die Heiligtümer. Deshalb kann ich nicht weg.“ Wieder das gelassene Lächeln eines in sich Ruhenden, das den leicht glasigen Augen Eschete Gebre Medhins Tiefe und Klarheit verleiht. Auf der Insel ist er der einzige Priester, auch sein Vater war schon Geistlicher hier. Priester sind im religiösen Äthiopien hoch geachtet: Schon im 4. Jahrhundert verbreitete sich das Christentum im Land. Äthiopien war überdies eines der ersten Länder, welches das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Heute sind je nach Quelle 40 bis 60 Prozent der Äthiopier Christen.

Gottesdienst wird in Debre Maryam alle zwei Monate gefeiert. Dann ist der grüne Platz vor der Kirche voll mit Menschen aus der Umgebung und findet zu seiner eigentlichen Bestimmung zurück: zum sicheren, geschützten Rückzugsort für Gläubige. Ansonsten besuchen vor allem Touristengruppen den Ort. Während sich dabei Debre Maryam noch als naturbelassen und wenig touristisch erweist, bietet sich auf manch anderer Insel des Tana-Sees ein konträres Bild: Den Weg vom Ufer zur Kirche säumen dort aneinandergereihte Stände mit Souvenirs; Frauen versuchen mit Fragen wie „Do you like shopping?“ zum Kauf eines Schals oder einer mit Fell bestickten Tasche zu bewegen. Junge Männer heften sich an einzelne Besucher und versuchen, sie auf dem viertelstündigen Weg zur Kirche zu überzeugen, bei ihnen etwas zu kaufen oder doch zumindest die E-Mail-Adressen auszutauschen.

Diese Einflüsse von außen spürt auch Eschete Gebre Medhin. Doch für ihn sei der Tourismus ein Gottesgeschenk, sagt er, durch welches der Region wieder Bedeutung und auch Einkünfte zukommen. Ob man ein Foto von ihm machen dürfe? Der Priester dreht seine entspannten Gesichtszüge lächelnd in Richtung Kamera. Dann erzählt er, dass er in einer großen Kiste Fotos sammelt, die Touristen von ihm gemacht und anschließend zugesandt haben. „Weil du ein so schönes Gesicht hast“, wirft eine Besucherin ein. Der alte Mann lächelt gelassen, blickt in die Ferne und winkt ab: „Das hat Gott mir geschenkt.“


28. Oktober 2015

 


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